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HANNOVER: CARMEN – Premiere am 24.
Oktober 2020
–
‘Der neue Merker‘‘
- 28.10.2020 |
Oper international
Evgenia Asanova. Foto: Sandra Then
Ist das noch
Oper?!
Die Staatsoper
Hannover, schon länger für unkonventionelle Darbietungen
bekannt, die nicht immer den größten Publikumszuspruch ernten,
kam Ende Oktober mit einer Neuinszenierung der „Carmen“
von Georges Bizet heraus. Das Programmheft ist übertitelt mit
„CARMEN, Georges Bizet/Marius Felix Lange“, als seien beide
Komponisten gleichwertig an der musikalischen Gestaltung des
Stückes beteiligt. Regie führte Barbora Horáková, mit
dramaturgischer Unterstützung durch Martin Mutschler. Im
Innern des Heftes erfährt man dann, dass es sich um eine
musikalische „Neubearbeitung“ des Bizet-Klassikers durch
Marius Felix Lange handelt, weil der 52-jährige Komponist,
der als Geiger mit „Carmen“-Fantasien von Pablo de Sarasate und
Franz Waxmann aufwuchs,
eine Diskrepanz entdeckte zwischen dem Leben, welches, auf
Prosper Mérimées Novelle basierend, eigentlich in der Oper
erzählt werden soll, und den Mitteln, mit denen das geschieht.
Lange will den Protagonisten Carmen und Don José etwas von ihrer
spezifischen Identität zurückgeben. Das wäre wohl eher die Sache
der Regisseurin gewesen. Hier kommt es aber musikalisch zum
Ausdruck, beziehungsweise soll es kommen, indem Lange nicht nur
diverse und harmonisch unpassende Versatzstücke in die Bizetsche
Partitur hineinkomponiert, sondern selbst bekannteste,
geschlossenste und auch beliebteste Nummern wie die Musik zur
Habanera und zur Blumenarie, um nur zwei prominente Beispiele zu
nennen, mit Dissonanzen unterspielt, ja, man könnte auch sagen
„unterspült“. Dazu benutzt er in erster Linie das Vibraphon und
Röhrenglocken, die nach seiner Ansicht „weitere Klangfarben“
erzeugen, aber auch ein riesiges Xylophon, sowie das Schlagwerk.
Die drei erstgenannten Instrumente, deren Verzicht es wohl
selbst bei den geltenden Hygiene-Vorschriften im Graben erlaubt
hätte, ein paar Streicher mehr als die gerade einmal vier
Geigen, zwei Bratschen und zwei Celli zu platzieren (insgesamt
nur 21 Musiker!), sorgten dafür, dass der Zuhörer sich zu keinem
Zeitpunkt der Integrität der von ihm erwarteten Musik Bizets
sicher sein konnte. Entsprechend dünn war auch der
Streicherklang, wofür der ansonsten umsichtig agierende
Stephan Zilias am Pult des Niedersächsischen
Staatsorchesters Hannover wohl eher nichts konnte.
Foto: Sandra Then.
Der
Streicherklang war in dieser Produktion aber eigentlich auch gar
nicht so wichtig. Denn was Barbora Horáková auf der Bühne von
Thilo Ullrich, mit den Kostümen von Eva-Maria von Acker,
dem Licht von Sascha Zauner und der Choreographie von
James Rosental abzog, wich deutlich von dem ab, was – immer
noch – unter der Kunstgattung Oper verstanden wird. Mit der
eigentlich gar nicht so abwegigen Idee, das Stück in der
Springsteenschen „darkness at the edge of town“, also in
einer Art Bronx oder Soho spielen zu lassen, in einem alten
verlassenen Stadion, wo man noch das verblichene Basketballfeld
erkennen kann. Hier geht es mit den sich dort herumtreibenden
jungen Leuten, gesellschaftlichen Underdogs, hoch her. Sergio
Verde sorgt auf einer hochgestellten Leinwand ähnlich wie
Frank Castorf das Geschehen mitzufilmen und zusätzliche Szenen
einzublenden. Die ominösen Kameraleute, eine sich mittlerweile
immer mehr abnutzende postmoderne Stereotype des Regietheaters,
huschen also auch wieder mal störend durch das Geschehen. Ganz
amüsant war aber der Einfall, dass Carmen einmal vor dem
eingeblendeten Werbe-Stier des spanischen 30-prozentigen Brandys
Osborne singen darf, wenigstens noch ein wenn auch
kommerzieller Anflug von einem allerdings auch schon etwas
klischeehaften Spanien-Kolorit.
Statt des Chores läuft aus Hygienegründen eine Balletttruppe mit
Mundschutz auf, die neben akrobatischen Einzelleistungen
gleichwohl sehr laut wird und am Ende des Torero-Liedes sogar
aus voller Kehle mitbrüllen darf und dabei einen nahezu
unerträglich kakophonen Geräuschpegel erzielt! Hinzu kommt
allerhand Müll, der herumsteht oder durch die Gegend fliegt,
Bierkästen, Autoreifen, Ölfässer, ein shopping cart, ungeachtet
musikalischer Gegebenheiten hupende Motorroller – alles so schon
oft gesehen, aber dadurch nicht besser. „Carmen“ in the
gutter…
Zusätzlich
dürfen Don José, und wie man erst im Laufe der Arbeit an der
Produktion feststellte, vorwiegend aus
Gleichberechtigungsgründen auch Carmen ein Lied aus ihrer Heimat
singen – er eines aus dem Baskenland, sie eines im
zigeunerischen Caló. Der des Programmheftes unkundige Zuseher
muss wohl raten, was das soll, zumal es die Musik von Bizet
unterbricht, um nicht „durchbricht“ zu sagen. Zu allem
unkompositorischen Überfluss lassen zudem zwei Sprecher immer
wieder Carmens und Don Josés Gedanken über Lautsprecher
erklingen. Könnte es nicht sein, dass man über diese auch etwas,
wenn nicht sogar viel, über die Komposition Bizets erfahren kann
– oder will man sich nicht die Mühe machen, diese in
nachvollziehbare Handlung umzusetzen?! Das wäre eigentlich die
Aufgabe eines das Werk und seine Rezeption bestens kennenden
Regisseurs.
Stattdessen wird die arme Micaela zum Zeichen ihrer
Unerwünschtheit gleich mit dem Dreck beschmissen und mit einem
Messer bedroht. Natürlich soll das zeigen, dass eine Rückkehr
Don Josés in seine Vergangenheit, zu der er ja immer wieder
tendiert, zugunsten einer klaren Entscheidung für Carmen und die
Zigeuner verhindert werden soll – ein Ausdruck der Freiheit, um
die es hier geht. Da darf er unterdessen auch Zuniga erschießen,
als Eifersuchtstat und Zeichen seiner nun ins Kriminelle
abdriftenden Freiheit, ähnlich wie er später Carmen umbringt.
Freilich raucht Zuniga im Sterben schnell noch eine E-Zigarette
– so leicht löst man sich in diesem Milieu von seinen Lastern
nicht!
In Carmens Tod ortet das Regieteam allerdings einen „Femizid“,
weil sie entgegen dem Besitzanspruch des Mannes – in seiner
„toxischen Maskulinität“ – auf ihrer Freiheit besteht, als
femininer „outlaw“. Sie ist nicht zuletzt aufgrund ihrer
Herkunft, die ihr jeglichen sozialen Aufstieg versagt, für den
Dramaturgen Mutschler ein Beispiel für „das mehr als latente
Ausgeliefertsein der Frau.“ Da haben wir sie also wieder,
die klassische Opferrolle der Frau. Dabei ist eigentlich in den
bei weitem am meisten zu sehenden „Carmen“-Inszenierungen und
wohl auch bei Bizet selbst der Mann das Opfer. Denn Carmen hat
durch ihren unbeugsamen Freiheitsdrang eine enorme Souveränität
– auch über sich selbst, während Don José sich selbst zum Opfer
macht, weil er sich zwischen einem durch Erziehung naheliegenden
konventionellen Lebenskonzept – symbolisiert durch Micaela – und
Carmen nicht entscheiden kann. Daran scheitert er am Ende und
bringt ihr den Tod, weil er sich diese Schwäche und sein
Versagen nicht eingestehen kann. Erst da ist auch sie dann
wirklich Opfer.
Die blutjunge Russin Evgenia Asanova gab die Carmen als
aufreizender Teeny mit einem schon recht guten Mezzo und schönen
Klangfarben. Der Mexikaner Rodrigo Porras Garulo spielte
einen engagierten und emphatischen Don José und ließ mit seinem
kraftvollen Tenor erkennen, dass er einmal Bariton war.
Germán Olvera, ebenfalls aus Mexiko, sang den Escamillo mit
ansprechendem, nicht zu großem Bariton. Der stimmliche Star des
Abends war aber unzweifelhaft Barno Ismatullaeva aus
Usbekistan, die der Micaela mit ihrem leuchtenden Sopran nahezu
himmlische, facettenreiche und lyrische Töne verlieh und dabei
auch noch große Empathie vermittelte. Frasquita war bei
Mercedes Arcuri und Mercedes bei Nina von Essen gut
aufgehoben. Yannick Spanier sang den Zuniga mit einem
klangvollen Bass.
Wenn das, was man an diesem Abend in Hannover erlebte, noch Oper
sein soll und der Trend, hemmungslos in Partituren einzubrechen
und sie nach Belieben umzuschreiben und hinzu zu komponieren,
weiter gehen sollte, dann steht es schlecht um diese weltweit so
beliebte Kunstgattung. Und das ist, was die Oper am wenigsten im
Moment der Corona-bedingt geschlossenen Opernhäuser braucht. Man
sah und hörte in Hannover stattdessen ein Potpourri aus
dramatischem Theater, Oper und Musical, eine Mischform, die
nicht überzeugen konnte, es vielleicht auch gar nicht wollte. Im
Focus stand wohl, etwas „ganz Neues“ zu machen, weil nur das
Neue noch interessant ist und Aufmerksamkeit sowie Aufregung
erzeugt. Dass das „Alte“ schon fast an der Perfektion liegt –
nicht umsonst gehört die „Carmen“ wohl zu den beliebtesten fünf
Opern überhaupt – spielt dabei keine Rolle. Daran im
vorgegebenen kompositorischen Rahmen auch szenisch phantasievoll
zu arbeiten, wäre wohl auch zu „konservativ“ und vermessen… In
jedem Falle ist der Intendanz zu raten, bei solchen
„Verinszenierungen“ zumindest dem Abo-Publikum einen Vorabdruck
des Programmheftes mit den Aufsätzen des leading teams per
E-Mail zu übermitteln, sodass es sich etwas auf das Kommende
einstellen kann.
Im Übrigen müsste sich, wenn dieser Trend einreißt, der
öffentliche Subventionsgeber, in diesem Falle das Bundesland
Niedersachsen, Gedanken machen – und es ist zu hoffen, dass an
der relevanten Stelle die erforderliche Fachkompetenz vorhanden
ist – ob die Höhe der jährlichen Subventionen noch den
angegebenen Kunstgattungen entspricht. Der Etat für die Oper
müsste dann wohl überdacht werden.
Schlussapplaus. Foto: Klaus Billand
Angesichts des
Erlebten machte ich nach der Vorstellung auf der Treppe der Oper
eine kleine Publikumsbefragung. Interessanterweise sagten zwei
voneinander völlig unabhängige ältere Damen auf die Frage, ob,
beziehungsweise wie es ihnen gefallen habe:
„Gewöhnungsbedürftig, sehr gewöhnungsbedürftig!“ Auf die zweite
Frage, ob sie nochmals in eine Vorstellung dieser „Carmen“ gehen
würden, kam ein resolutes „Nein, einmal reicht!“ Die zweite
meinte sogar auf meine Frage speziell nach dem musikalischen
Eindruck im Weggehen: „Ach, die Leute sind doch heute schon
froh, wenn sie überhaupt noch eine bekannte Melodie hören…“ Ist
das Opernpublikum in seinen Ansprüchen wirklich schon so weit
gesunken?
Klaus Billand |
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